P.S: Dieser Artikel wurde von mir vor einem Jahr auf einer Rückfahrt im ICE von einem PDK geschrieben, aber hat den Weg ans Licht der Öffentlichkeit bisher nicht geschafft. Da ich aber nicht dazu komme ihn weiter zu »tunen«, nun einfach in der Rohfassung hier zum Lesen.
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Begriffsklärung und Richtungsentscheid zwischen
industrieller, ökologischer und aufbauender Landwirtschaft
von Stefan Schwarzer
Das Problem ist offensichtlich – aber wird nur von einer kleinen Gruppe von Menschen gesehen. Die Entwicklung der Landwirtschaft über die letzten Jahrzehnte, genauer gesagt seit Ende des Zweiten Weltkrieges, ist erstaunlich und besorgniserregend. Erstaunlich, weil wir gemeinhin glauben, mit einem immer weiter steigenden technischem und chemischen Einsatz immer mehr zu produzieren. Die großen Traktoren mit einem Kampfgewicht von rund 20 Tonnen, die riesigen Erntemaschinen, die stolzen Anhänger – sie können immer größere Flächen immer schneller säen, bepflanzen, bespritzen, beernten und pflügen. Jedoch, und das wird einer steigenden Anzahl von Menschen immer klarer, auf Kosten der Natur, des Bodens, der Artenvielfalt, der Anmut der Landschaft; aber auch auf Kosten der Steuerzahler und der zukünftigen Bewohner dieser Erde. Einige der Folgen: Bodenerosion und massiver Verlust fruchtbarer Böden; Artensterben bei Vögeln, Insekten, Bestäubern und im Bodenleben; Gifte, die im Boden, in den Bächen, im Grundwasser und auch in unseren Lebensmitteln landen; Genmanipulation von Pflanzen mit noch nicht absehbaren Folgen; gesundheitsgefährdende Nitratbelastung des Grundwassers; Ausweitung der „Todeszonen“ in Meeren durch Nitratbelastung; Ausbeutung nicht erneuerbarer Grundwasservorräte usw.
Die Natur ist in der Lage, verschiedenste Funktionen zu erfüllen, die für unser Überleben sehr wichtig sind. Dazu gehört das Filtern von Luft und Wasser; die Speicherung von Wasser; die Gesundhaltung von Böden. Die Natur lässt Heilpflanzen wachsen, sie ist Quelle von Erholung und Inspiration. In ihr finden wir eine hohe genetische Vielfalt.
Viele dieser Dienstleistungen werden durch die Praktiken der industriellen Landwirtschaft zerstört. Der Boden ist kaum erneuerbar, in etwa 100 Jahren “wächst” er nur um einen Zentimeter. Und doch betreiben wir eine Art der Landnutzung, die zur Verarmung führt: Wir ziehen uns quasi den Boden unter den eigenen Füßen weg, mit Abbauraten, die bis zu 100 mal größer sind als die Erneuerungsrate . Zudem töten wir mithilfe von Pestiziden nicht nur die “störenden” Unkräuter, sondern gleichzeitig ein Großteil der Lebewesen, die den Boden “beackern”. In einer Handvoll gesunder Erde leben mehr Mikroorganismen, als es Menschen auf der Erde gibt. Die Regenwürmer, die sich in einem Hektar rar gewordenen gesunden Wiesenbodens tummeln, bringen mehr Gewicht auf die Waage als die Kühe, die oben auf der Wiese grasen . Dass Boden ein überaus wichtiges Gut ist, ist uns leider meist nicht so klar. Aber nur ein gesunder Boden produziert auch gesunde, nährstoffreiche und gut schmeckende Pflanzen. Und nur ein guter, humoser Boden kann Wasser speichern – mit jedem Prozentpunkt mehr im Ackerboden sind das pro Hektar unglaubliche 130.000 Liter zusätzlich.
Unsere Landschaften sind in verschiedener Hinsicht verarmt. Agrarwüsten und Mais-Monokulturen zur Biogasproduktion leisten keine “Sicherung der zukünftigen Nahrungsmittelproduktion”, ganz im Gegenteil. Wie sollen unsere Kindeskinder auf den jetzt schon fast toten Böden noch Nahrung produzieren? Auf Böden, die kaum noch Humus haben und immer dünner werden? In Landschaften, die nur noch ein Bruchteil von Tieren und Pflanzen Lebensraum bieten, wenn man sie mit jenen vor 50, 100 oder 250 Jahren vergleicht?
Eine ökologische Agrarwende ist bitter nötig. Doch neben vielen Ökobauern, die mit Überzeugung, Energie und Ausdauer eine Veränderung zum Guten zu erreichen versuchen, gibt es auch “ökologisch” wirtschaftende Landwirte, die weiterhin agroindustriell denken und nur “konventionell ohne Chemie” arbeiten, weil Produkte mit dem Label “Bio” mehr Geld einbringen. Die also weiter in großem Stile pflügen, Monokulturen anbauen, mit schweren Maschinen über die Äcker fahren, mit nicht erneuerbarem Grundwasser bewässern. Der Begriff der “ökologischen Landwirtschaft” ist, wie jeder Oberbegriff, unklar und schwammig. Was heißt es genau, “ökologisch” zu wirtschaften?
Die “ökologische Landwirtschaft”, wie sie zumeist bei uns betrieben wird, wird nicht ausreichen, um unseren Kindern und der 7. oder gar 150.Generation nach uns die gleichen oder bessere Bedingungen zum Überleben zu sichern. Wie kann das sein? Und welche Ausrichtung sollten wir dann wählen?
Die Natur ist eine ressourcenaufbauende oder regenerative Kraft: Eine von Erdrutsch oder Steinschlag zerstörte Bodenschicht wird innerhalb weniger Jahre durch Flechten, Moose und Pflanzen wieder besiedelt, die den Boden so stark verbessern, dass bald auch die ersten Sträucher und Bäume sich ansiedeln können. Nach einigen Jahren oder wenigen Jahrzehnten kann sich langsam wieder ein Wald entwickeln. Gleiches gilt für zerstörte Mangrovenwälder oder Korallenriffe, vergiftete Gewässer, verölte Meere, fast dezimierte Pflanzen- und Tierarten: Gibt man der Natur etwas Zeit und Raum, so ist immer wieder erstaunlich, wie schnell sie es schafft, das wieder “gut zu machen”, was der Mensch zerstört hat.
Der englische Begriff “sustainable agriculture” – „nachhaltige Landwirtschaft” – klingt zunächst gut. Dennoch ist auch diese Form der Landwirtschaft oftmals ressourcenzerstörend, weil sie es nicht schafft, Boden, Wasser und Ökosysteme zu erhalten. Ressourcenaufbauend oder regenerativ, so wie die Natur fast überall wirkt – davon sind wir weit entfernt. Als ressourcenaufbauende können wir solche Praktiken beschreiben, die die Natur in ihrer beeindruckenden Regenerationsfähigkeit unterstützen. Und wenn wir nur bewahren („to sustain“), was da ist, dann bewahren wir auch verarmte und vergiftete Böden, eine dezimierte Tier- und Pflanzenwelt, reduzierte Rückhalt- und Filtermöglichkeiten für Wasser. Und das soll die Lösung sein? Haben wir nicht auch eine ethische Verantwortung der Natur und unseren Mitmenschen und Nachkommen gegenüber?
Seit ich angefangen habe, mich mit den Folgen der vor etwa 10.000 Jahren entstandenen Landwirtschaft zu beschäftigen, frage ich mich, ob eine “zukunftsfähige” Landwirtschaft möglich ist – oder ob das nicht ein Widerspruch in sich selbst ist. Fast alle großen Zivilisationen sind durch die Bearbeitungsmethoden der Landwirtschaft zusammengebrochen. Ob wir nach Mesopotamien schauen, zu den Griechen oder den Römern, zu den Mayas und Azteken oder auch zu ackerbaulich wirtschaftenden Natives in den USA: In allen Fällen war der Verlust an Boden nach einigen Jahrhunderten so groß, dass nur noch eine dünne Ackerkrume übrig blieb. David Montgomery und Jared Diamond führen das in ihren Büchern “Dreck” bzw. “Kollaps” sehr anschaulich aus.
Um eine wahrlich “enkeltaugliche” Landwirtschaft zu entwickeln, müssen wir weitergehen, als wohl selbst die meisten ökologisch wirtschaftenden Betriebe es machen. Wir brauchen eine regenerative Agrikultur, die die ausgebeuteten Ressourcen auffüllt, aufbaut, regeneriert. Dieser aus der Permakultur inspirierte Ansatz scheint mir derzeit der einzige wahre Begriff zu sein für die Herkulesaufgabe, die vor uns liegt. Aber wie kann man Ressourcen aufbauen, wenn schon die ökologische Landwirtschaft kaum wirtschaftlich arbeiten kann?
Ein Blick in die Natur mag helfen: Dort schaffen vielfältige Strukturen auch vielfältigen Lebensraum, schützen Boden und Tiere mit vielfältigen Methoden. Vielfalt scheint ein wichtiger Faktor zu sein. Auch ist der Boden in der Natur mit ganz wenigen Ausnahmen eigentlich immer bedeckt. Zerstört ein Erdrutsch, eine Lawine oder ein Brand die Vegetationsschicht, dann dauert es meist nicht lange, bis Schutz und Aufbau des Bodens schnell von kleinen und bald größeren Pflanzen wieder übernommen wird. Daraus können wir lernen: Der Boden sollte ständig bedeckt sein. Und wird können mit Pflanzen arbeiten, die über viele Jahre und Jahrzehnte nutzbar sind. Nur ein kleines Beispiel: Es gibt in Italien Kastanien, die über tausend Jahre alt sind . 1.000 Jahre, in denen nicht gepflügt werden musste, nicht gewässert, nicht gespritzt. Sondern einfach nur im Herbst geerntet. Ist das nicht ein unglaubliches Zeugnis des wirklich “nachhaltigen” Wirtschaftens der Natur? Wie sähe unser Boden, unsere Landschaft aus, wenn wir die Kohlenhydrate weniger aus Getreide und mehr aus Kastanien, Wal- und Haselnüssen gewinnen würden?
Was wiederum ein anderes Problem lösen könnte: Unsere Nahrung ist seit der Entwicklung der Landwirtschaft sehr einseitig geworden – zum Nachteil unserer Gesundheit. Jäger und Sammler bezogen nur 20 bis 30 Prozent ihrer Nahrung aus Kohlenhydraten, wir aber zu 70 Prozent, zumeist aus nur vier Sorten: Weizen, Reis, Mais, Kartoffel. Getreide bietet jedoch wenig Vitamine oder Mineralstoffe. So manche “Zivilisationskrankheit“ kann man darauf zurückführen.
Bäume pumpen außerdem aus größeren Bodentiefen Wasser und Nährstoffe herauf – was sie widerstandsfähiger gegen Trockenheiten macht, das Mikroklima positiv verändert und den Boden um den Baum herum wiederum nährt, wenn der Baum diese Nährstoffe im Herbst in Form von Laubfall abgibt. Zudem können Bäume den Wind bremsen, was die Bodenerosion vermindert. Sie schützen den Boden vor Regen und halten ihn viel besser zusammen, sodass Wassererosion kaum mehr eine Rolle spielt. Die Integration von Bäumen in die Äcker nennt man Agroforstwirtschaft und ist eine Praxis, die in manchen Bereichen der Erde schon weit verbreitet ist.
Was sind weitere Methoden der “aufbauenden Landwirtschaft” (mehr dazu auch in unserem Buch „Die Humusrevolution„)?
• Pfluglose oder Minimal-Bodenbearbeitung – Eine bodenschonende Bearbeitung fördert die Entwicklung des Bodenlebens (Bakterien und Pilze), die Festigkeit des Bodens, den Humusaufbau und die Wasserspeicherkapazität
• Direkteinsaat – In eine bestehende, oft lebende, Bodenbedeckung einsäen und damit den Boden vor Erosion schützen und das Bodenleben nähren
• Untersaaten und Zwischenfrüchte – Ständige Bodenbedeckung und Nahrung für das Bodenleben
• große Fruchtfolgen – Das Bodenleben stärken, „Schadinsekten“ schwächen
• Mulchen des Bodens – Ständige Bodenbedeckung
• Holistisches Management – Ganzheitliche Ausrichtung des Betriebes, inklusive ökonomischer, sozialer (persönlich und gesellschaftlicher) und ökologischer Ziele
• Rotierendes Weide-Management – verschiedene Tierarten folgen aufeinander in eng gesteckten Parzellen
• Wasserrückhalt und -speicherung durch Teiche und Gräben
• Keyline-Design – Landschaftsgestaltung, Bodenaufbau und Wassermanagement
• Mischkulturen – Vielfalt in den Kulturen fördern
• die Nutzung mehrjähriger (Gemüse)Pflanzen – Die Vorteile mehrjähriger Pflanzen (tiefere Wurzeln, weniger Pflegeaufwand, höhere Nährstoff) nutzen
• Indigene Praktiken wie Waldgärten, Terra-Preta-Technik oder Milpa-Kulturen
In den letzten 50 Jahren mussten 19 von 20 Bauern aufgeben. Das Prinzip „Wachse oder weiche“ ist eine völlig falsche Entwicklung, es fördert agroindustrielle Monokulturen und macht die Größten noch größer. Eine vielfältige Nutzung der Landwirtschaft und eine regenerative Agrikultur ist nur möglich, wenn mehr Menschen dort arbeiten – möglichst händisch und ohne fossile Energie. Das macht Lebensmittel zwar teurer, aber qualitativ viel besser und gesünder – was wiederum Gesundheitskosten einspart. Dies alles bedarf jedoch Unterstützung der Verbraucher und Konsumentinnen. Das Modell der solidarischen Landwirtschaft zeigt an vielen verschiedenen Orten der Welt, welches Potential in dieser Art der Zusammenarbeit steckt.
Am Schloss Tempelhof ist uns diese “aufbauende Landwirtschaft” ein wichtiges Anliegen. Wie wir unsere Anbaumethoden im Kleinen und Großen ändern oder anpassen müssen, um dieses hohe Ziel zu erreichen, ist ein beständiges In-Frage-Stellen, Forschen, über-unseren-Tellerrand-hinaus-Blicken. Wir bewirtschaften gut 20 Hektar landwirtschaftlicher und gärtnerischer Fläche mit vier Gewächshäusern, 150 Hühnern, 70 Bienenvölkern und 5 Schweinen. Unser Ansatz einer solidarischen Landwirtschaft wird von den Mitgliedern der Lebensgemeinschaft getragen. Wir sind damit ein kleiner und feiner „Hoforganismus”, der ganzjährig 140 Menschen versorgt und Vollpension für 8.000 Übernachtungen stellt.
Wir möchten mit innovativen Techniken und Methoden den Tempelhof zu einem Modellbetrieb für eine aufbauende Landwirtschaft entwickeln, ausprobieren und aufzeigen, was möglich ist (ein Forschungsprojekt ist im Frühjahr 2017 gestartet); Workshops für Gärtner und Landwirte anbieten; ein jährlich stattfindendes Symposium “Aufbauende Landwirtschaft” entwickeln. Das Ziel ist, eine Begegnungsfläche für geistig offene konventionelle und ökologische Landwirte, Gärtnerinnen und Permakulturisten zu entwickeln und damit in die Breite zu wirken. Wir wollen ein Forschungsbetrieb sein, welcher verschiedenen Fragestellungen nachgeht und zukunftsfähige Möglichkeiten des Landbaus aufzeigt.
Viele Grüße,
Stefan Schwarzer